FAZ/Politologe Schroeder: "Ungleichheit ist gut" - eine Polemik

In der FAZ wurde im Dezember 2012 ein Interview mit dem Politologen Klaus Schroeder von der FU Berlin abgedruckt: „Die Gesellschaft unterschätzt die Ungleichheit“. Darin argumentiert Schröder, dass zum einen die soziale/wirtschaftliche Ungleichheit zwischen arm und reich nicht signifikant gestiegen sei, und außerdem Ungleichheit für die Gesellschaft ganz förderlich sei.

Wir freuen uns hier eine Erwiderung von Dieter Lehmkuhl vom Appell für eine Vermögensabgabe abzudrucken:
"Schroeder nutzt und sucht gezielt Argumente, von denen manche berechtigt sein mögen und das Bild erweitern können - ich habe das nicht im Einzelnen geprüft. Insgesamt gibt der Beitrag aber ein völlig schiefes Bild. Seine Argumentation lässt das Bemühen erkennen, Ungleichheit zu legitimieren bzw. die wachsende Ungleichheit in Frage zu stellen: Ablenken durch Fokussierung auf unwichtige Details, Nebelkerzen werfen, Einseitigkeiten und Halbwahrheiten.

Was den Armutsbegriff angeht sind seine Argumente ziemlich dürftig und nicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Debatte. Er sieht wohl vorsätzlich über die EU Definition des relativen Armutsrisikos hinweg. Will er tatsächlich den absoluten Armutsbegriff der UN in Höhe von einem US Dollar Kaufkraftäquivalent in Deutschland zum Maßstab machen? Außerdem verwechselt er durchschnittliches Einkommen mit mittlerem Einkommen (Medianwert) als Referenzpunkt bei der Definitionen des Armutsrisikos bzw. von Armut. Das macht schon einen Unterschied für die Lebenswirklichkeit der Betroffenen, weil das Durchschnittseinkommen gerade bei großer Ungleichheit erheblich höher ist als das Medianeinkommen.

Armut definiert sich in entwickelten Gesellschaften aus gutem Grund anders und muss sich anders definieren. Die (subjektiven) Folgen relativer Armut können hier durch Exklusion gleich groß oder sogar größer sein als absolute Armut in Entwicklungsländern. Unser BverfG hat mit Recht auf die Menschenwürde und die Möglichkeit zur sozialen Teilhabe bei der Definition des Existenzminimums hingewiesen und nicht nur auf die Absicherung primärer materieller Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Obdach.

Es bleibt unklar, auf welchen Gini-Koeffizient sich Schroeder bei seiner Aussage bezieht, der Gini-Koeffizient sei seit 1991 gleich geblieben. Für den Einkommens Koeffizient trifft diese Aussage eindeutig nicht zu: im Gegenteil. Daten über die Entwicklung des Gini-Koeffizienten bei den Vermögen in Deutschland waren mir per Internet leider nicht zugänglich. Der Gini-Koeffizient der Vermögensverteilung, gerade auch im Ländervergleich, ist jedoch wenig aussagefähig, da die Daten höchst unterschiedlich und unvollständig erhoben werden. Der Gini-Koeffizient der Einkommen ist da zuverlässiger und wird daher als Maßstab der Ungleichheit in erster Linie herangezogen.

Die Daten zeigen auch nicht, wie von Schroeder behauptet, dass Deutschland in Bezug auf Gleichheit unmittelbar nach den skandinavischen Ländern kommt. Das ist lange her. Unter 29 OECD Ländern liegt Deutschland heute beim Gini-Koeffizient der Einkommen inzwischen etwa im (oberen) Mittelfeld. Dies gilt auch nach Berücksichtigung der Transferleistungen, die in der Tat zu einer relevanten Reduzierung der Ungleichheit nach Markteinkommen führen. Alle einschlägigen Statistiken und Studien (OECD, DIW/Grabka 2011: Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland) belegen die stark wachsende Ungleichheit in Deutschland seit Ende des 20 Jahrhunderts, stärker als in (fast) allen anderen OECD Ländern (etwa hier,) oder hier (Growing Unequal - income distribution and poverty in OECD). Es ist mir unbegreiflich, wie Schroeder diese unbestreitbare Faktenlage nicht zur Kenntnis nehmen will und klein redet.

Er verschweigt zudem - oder kennt nicht -  die breiten wissenschaftlichen Befunde  zu den sozialen, gesundheitlichen (Richard Wilkinson und Kate Pickett 2010: The Spirit Level - Why More Equal Societies are Better for All - siehe hier oder hier) sowie zu den ökonomischen Folgen (Joseph Stiglitz, 2012) von größerer Ungleichheit. Inzwischen gehen alle Wachstumsgewinne fast nur noch an die oberen 10%, in den USA sogar zu 96 % an die oberen 1%  (Zahlen für 2010, Stiglitz) ! Gesellschaften prosperieren nur, wenn sie als Ganze in Balance sind. Das zeigt die Empirie ebenso wie der gesunde Menschenverstand.

Schroeder verkennt zudem, dass gerade die sehr großen Vermögen oft nicht durch "Leistung" (häufig ein Mythos) erarbeitet wurden, sondern sich durch Erbschaft und Kapitaleinkommen vermehrt haben. Von anderen Formen wie Ausbeutung, widerrechtliche Aneignung, Korruption, Steuerhinterziehung,Monopol- bzw. Oligopolmacht etc. mal abgesehen. "Transferleistungen nach oben" hat das der Journalist Walter Wüllenweber in seinem Buch "Die Asozialen" kürzlich genannt.

"Der größte unvermerkte Posten in den realen Einkommensverhältnissen", so Schroeder, sei die Schwarzarbeit. Er beklagt zudem, dass die Rentenansprüche in die Berechnung der Vermögen im Armutsbericht der Regierung nicht eingegangen sind. Warum erwähnt er nicht auch die riesigen in Steueroasen angelegten Vermögen, meist unversteuerte Schwarzgelder und deren Erträge, die im Bericht nicht auftauchen (können) ? Das sind die wirklich "großen unvermerkten Posten", die die Schieflage bei Einkommen und Vermögen noch deutlich erhöhen.

Die Ungleichheit wird im Armut- und Reichtumsbericht nicht, wie Schroeder suggeriert, "politisch interessengeleitet" dramatisiert. Im Gegenteil: sie wird beschönigt. Die Betriebsvermögen und die 21-32 Billionen US$, die weltweit in Steueroasen gebunkert sind, gehen in die Daten über die Vermögensungleichheit des Berichtes nicht ein. Auch das hätte Schroeder wissen und erwähnen können, wenn er nicht einseitig blind wäre.

Das DIW kommt auf anderer methodischer Grundlage (SOEP) zu von den im Armutsbericht der Regierung deutlich abweichenden Zahlen in der Vermögensverteilung. Den Daten auf der Grundlage des Sozio-ökonomischen Panels zufolge beträgt der  Anteil der obersten 10% am Gesamtvermögen 66% (im Armutsbericht 53% ?), der des obersten 1 Prozent  34% (im Armutsbericht 23%). Aber keiner weiß das so genau, da sich die Reichen nicht in die Karten schauen lassen und allzu große Transparenz wohl auch nicht politisch gewollt ist.

Die Diskussion um die Einführung einer Vermögenssteuer, so Schröder, sei eine "politisch motivierte Scheindebatte", wenn  auch "vielleicht politisch-moralisch gerechtfertigt", weil sie bei den von ihr betroffenen oberen 3-5 %  Vermögenden nicht zur Haushaltssanierung beitragen würden. Er irrt oder wirft Nebelkerzen. Bei einem Schonvermögen von 500.000 Euro/Person - das beträfe nur die oberen 2-3 % - würde eine Vermögenssteuer von 1% nach Berechnungen des  DIW etwa 16 Milliarden Euro/Jahr einbringen, auf 10 Jahre wären das 160 Mrd. Eine Vermögensabgabe von 10% verteilt auf zwei Jahre, wie sie die Initiative Vermögender und in ähnlicher Form auch andere fordern, würde bei gleicher Bemessungsgrundlage einmalig 160 Milliarden Euro generieren. Beides kombiniert ergäbe schon erhebliche Summen. Eine Zumutung wäre das für die Betroffenen nicht. Es wäre nur eine gewisse Korrektur der massiven Umverteilung von unten nach oben, die durch die zahleichen Steuersenkungen zugunsten von Wohlhabenden und Unternehmen, vor allem aber durch das große Auseinanderdriften in den Primäreinkommen von Normalbürgern und  Spitzenverdienern, in den letzten 15 Jahren die Kluft zwischen arm und reich  so drastisch vergrößert haben.

Aber lieber weiter die kleinen Leuten, Mittelständler und Mittelschicht belasten, wodurch die Ungleichheit nur weiter zunimmt, statt Wohlhabende leistungsgerecht zu besteuern, wie es unsere Verfassung vorsieht. Hinter der Diskussion über Armut und Reichtum sieht Schroeder auch "politische Interessen". Welch eine große Erkenntnis für einen Politologen! Nur gegenüber der eigenen verzerrten Wahrnehmung ist er blind."